Sonntag, 31. Juli 2011

Es muss eine Antwort geben

„Sind das wirklich Ihre Kinder?“ Der Zivilbeamte biss nervös auf seiner Unterlippe herum, während seine Frage noch eine ganze Weile im Raum stehenblieb. Niemand sagte etwas.

Als das Gespräch endlich weiterging, drehte es sich um Kabeljau, den Rohstoffreichtum Afrikas und um Nepomuk, den blonden Gärtner aus Österreich. An einer Stelle des Gesprächs, es könnte beim Übergang vom Kabeljau zu Afrika gewesen sein, warf Raisa ihren Kopf in den Nacken, schnalzte mit der Zunge und verließ das Fest.

Der Zivilbeamte hinterher. Raisa hielt selten mit ihrer Meinung hinter dem Berg, das war bekannt und soviel hatte der Beamte schon ermittelt. Soviel. Das Augenscheinliche – das, was jeder wusste. Genau soviel und nicht mehr. Was für ein Fest.

„Sie führen mich an der Nase herum“, hatte der Zivilbeamte eben gerade still zu sich selbst gesagt, als Raisa den Kopf in den Nacken warf und gleich darauf das Fest verließ. Er hinterher.

Er hatte Mühe, ihr zu folgen. Er wollte es wissen. Jetzt wollte er es wissen. Von ihr. Sie würde ihm eine Antwort geben müssen. Wenn er ihr gegenüber stand, würde sie antworten müssen. Wenn sonst niemand dabei wäre, wenn es kein Publikum gab, würde sie antworten. Sie würde ihm antworten müssen. Denn so war sie. Sie würde nicht anders können, als ihm zu antworten. Also würde sie ihm antworten.

Er lief schneller. Noch schneller. Bald hatte er sie eingeholt. Er konnte schon ihr Parfum riechen. Er lief weit vornüber gebeugt, um schneller zu sein, noch schneller. Dann setzte er zum Sprung an und packte sie bei den Haaren. Sie drehte sich erstaunt zu ihm um und schüttelte sich mit gespieltem Unwillen, nur einmal. Gleich fiel er von ihr ab. “Oh“, sagte sie.

Der Zivilbeamte kniff die Augen zusammen. Mit nichts als großer Konzentration zog er die auf dem Fest unbeantwortet gebliebene Frage herbei, eine Schwebung. Er stärkte sie mit seinem Willen, bis sie wieder da war, zunächst ganz leise, dann immer lauter, hörbar, gut hörbar, mehr als hörbar. Da war sie wieder, die Frage.

Raisa nickte anerkennend. Doch darum war es ihm nicht gegangen, darum nicht. Um eine Antwort war es ihm zu tun. Er zog seine Augenbrauen erwartungsvoll in die Höhe. Er wartete.

„Nein“, sagte Raisa, „nein!“

Gut, aber wessen Kinder waren es dann?

Sonntag, 24. Juli 2011

Der Schlafwandler

Pago war Page in Uldeworm, Bramsche. Das muss keine Strafe sein, dachte Pago damals oft bei sich.

Die Arbeitsbedingungen im feinen Hotel Schnee in Uldeworm waren, das muss man sagen, branchenüblich. Wenn die Arbeit auch anstrengte, so hatte Pago sich doch entschlossen, jede absonderliche Begegnung und jedes Widerfahrnis als Sammelbild in seinem Gedächtnisalbum abzulegen – als Teil eines zukünftigen Schatzes. Das war klug und so kam es, dass Pago bereits in jungen Jahren mit Gewinn nichts Menschliches fremd blieb.

Des Nachts dann sprang Pago auf den Dachfirst des Hotels und balancierte dort auf und ab. Dabei hielt er die Augen fest geschlossen, denn er memorierte, während er balancierte, die Bilder des Tages: die Bilder aus dem Gedächtnisalbum, auch die vom Vortag und die vom Tag davor. So sorgte er dafür, dass er sie nicht vergaß.

Seit er in einer mondhellen Nacht dabei beobachtet worden war, nahm man in Uldeworm an, er schlafwandle. Das tat er aber nicht und alle guten Ratschläge, wie er vom Schlafwandeln ab- und zu einem ruhigen Nachtschlaf hinkommen könne, liefen ins Leere. Er ließ sie reden.

Später dann brauchte er die Augen nur für einen Moment zu schließen und eines der Bilder hervor zu holen. In jeder absonderlichen Situation, bei jedem Widerfahrnis gab ihm dies: das schon einmal so oder doch so ähnlich schon einmal gesehen, schon einmal erlebt zu haben, eine heitere Gelassenheit, um die er von manch einem mehr als beneidet wurde. Vor allem ihn selbst aber machte diese Wiederkehr des Gleichen, was es auch war, glücklich.

„Ich bin“, dachte Pago still bei sich, „Page in Uldeworm gewesen. Keiner hat ein Gedächtnisalbum wie ich.“

Montag, 11. Juli 2011

Kraepelin

Er ließ nichts aus, da war er eigen. Das konnte er einfach nicht. Wenn er etwas auslassen sollte, schnürte sich ihm die Kehle zu und es benahm ihm den Atem, als hätte er den Mund voller Bettfedern.

Kraepelin konnte einfach nichts auslassen.

So war er unentwegt beschäftigt und mit vielen Dingen befasst, verschiedenen und manchmal auch noch gleichzeitig. „Du bist ein Filou“, hatte ein schwergewichtiger Haberstolz einmal zu ihm gesagt. Aber das war doch das falsche Wort gewesen.

Kraepelin war kein Filou. Er konnte nur einfach nichts auslassen.
Wenn es zum Beispiel hieß: „Zweihundert Gramm Butter auslassen!“ Dann empfand Kraepelin das als Zumutung. Er wollte nichts auslassen, gar nichts, auch kein Stück Butter.

So kam es, wie es kommen musste. Kraepelin, im Bestreben nichts auszulassen, wirklich gar nichts, tat immer mehr und tat, was er tat, immer schneller.

Immer schneller und schneller.

Sein Umriss verwischte, seine Kontur verschwand. Kraepelin wurde ganz Tat. Nicht mehr die eine oder die andere, nein, er wurde rauschhafte Bewegung. Ohne Begrenzung. Das wurde Kraepelin.

Man könnte sagen, er war ausgelassen.

Sonntag, 10. Juli 2011

Fenster zum Hof

Lanthan seufzte und schloss die Fenster. Er wusste, dass man ihn dabei beobachtete. Doch das war ihm gleichgültig. Aus dem Fensterschließen würde man ihm keinen Strick drehen können, dachte er, daraus nicht.

Es war vollkommen in Ordnung, Fenster zu schließen, die geöffnet worden waren. Das Schließen der Fenster war ja werkseitig vorgesehen. Fenster waren zu öffnen und zu schließen, darauf wurde bei der Herstellung von Fenstern Rücksicht genommen. Fenster hatten diesen Mechanismus zum Öffnen und Schließen. Wenigstens bei den meisten Fenstern war das so, auch bei diesen hier. Es gab auch Fenster, die man nicht öffnen konnte, überhaupt nie, und genau darum konnte man sie auch nicht schließen. Sie waren schon immer geschlossen. Und es gab Fenster, die man nicht öffnen sollte. Die waren verschlossen worden, so dass sie nicht geöffnet werden konnten, bis sie aufgeschlossen würden. Anstaltsfenster zum Beispiel. Aber dies geschah fast nie. Sie wurden nicht aufgeschlossen.

Lanthan kannte sich aus mit Fenstern. Diese Fenster waren geöffnet gewesen. Und er hatte sie geschlossen, ganz ruhig, ein Fenster nach dem andern.

Woraus denn dann wird man mir einen Strick drehen? Fragte er sich und trat von den Fenstern zurück. Aus dem Fensterschließen nicht. Das hielt er nicht für möglich, daraus würde man ihm keinen Strick drehen können oder drehen wollen. Das glaubte er zu wissen, weil das Schließen der Fenster den Fenstern eigentümlich war. Es war ihnen geradezu eingebaut, den Fenstern, geöffnet und geschlossen werden zu können. Es war das, was sie am besten konnten, geöffnet und geschlossen werden, allerdings eben nicht von sich aus. Jemand musste es tun. Von sich aus gaben sie nur den Blick frei, die Fenster. Diese auch. Nach drinnen von draußen, nach draußen von drinnen.

Jetzt beobachtete man ihn durch diese Fenster, durch die von ihm geschlossenen Fenster. Und er sah hinaus, von drinnen nach draußen sah er durch diese Fenster.

Draußen stand ein Galgen. Neben dem Galgen standen jene, die ihn durch die von ihm geschlossenen Fenster jetzt beobachteten. Sie sahen ihn gut. Er sah nach draußen. Am Galgen baumelte ein Strick.

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